Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlaments, ist als leidenschaftlicher Europäer bekannt. Exklusiv für treffpunkteuropa: Sein Appell gegen Abschottung und für ein vielseitiges und weltoffenes Europa in einer globalisierten Welt. Ein Gast beitrag für Treffpunkt Europa.

Ein neuer Impuls für Europa

Über Jahrzehnte hinweg war Europa das Versprechen auf eine bessere Zukunft. Eine Zukunft in sicherem Frieden, mit wachsendem Wohlstand und mit mehr Freiheiten. Immer mehr Menschen, ganze Völker und Länder wollten Teil davon werden. Bis heute.

Heute glauben viele dieses Versprechen nicht mehr. Immer mehr Menschen zweifeln an Europa. Sie halten es für einen Teil des Problems und nicht mehr für den konstruktiven Teil der Lösung.

Ich mache mir deshalb Sorgen um die Europäische Union. Alleine die Entwicklungen der letzten Monate können zu politischen, gesellschaftlichen oder ökonomischen Brüchen führen, die heute teils noch gar nicht absehbar sind. Brexit, Donald Trump, die Ablehnung des europäisch-ukrainischen Assoziierungsabkommens durch die Niederlande: Wer angesichts dieser Ereignisse immer noch glaubt, dass es künftig nicht noch weitere problematische Abstimmungsergebnisse geben könnte, ist bestenfalls naiv. Im Frühjahr tritt mit Marine Le Pen in Frankreich eine Frau als Präsidentschaftskandidatin an, die die Zerstörung der EU als ihr Programm benannt hat und deren Vater und Parteigründer Auschwitz als ein „Detail der Weltgeschichte“ bezeichnet hat.

In vielen europäischen Ländern haben anti-europäische Parteien in den vergangenen Jahren Wahlerfolge erzielt und inzwischen haben einige von ihnen sogar Regierungsverantwortung. Sie alle setzen auf das gleiche Märchen, jenes von der Rückkehr in den guten alten Nationalstaat. Sie hetzen ein europäisches Volk gegen das andere auf, haben für alles einen Sündenbock, aber für nichts eine Lösung. Wer glaubt denn ernsthaft, dass Luxemburg, Estland, Portugal, ja selbst Italien, Frankreich oder Deutschland allein auch nur den Hauch einer Chance hätten, die Freiheit, Sicherheit und den Wohlstand für ihre Bürger im 21. Jahrhundert bewahren zu können? Wir müssen unser europäisches Gesellschaftsmodell gegen die Feinde der Freiheit verteidigen. Denn scheitert Europa, dann scheitert die einzige transnationale Demokratie, die es in der Geschichte der Menschheit gegeben hat. Scheitert Europa, negieren wir die Lehren aus den Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Es gibt so vieles, worauf wir in Europa stolz sein können, worum uns die Menschen auf anderen Kontinenten beneiden: Frieden, Wohlstand, eine freie Presse, soziale Absicherung, das Streikrecht, das Recht Parteien und Gewerkschaften zu gründen, unabhängige Gerichte und die Waffengleichheit vor Gericht, die Freiheit von Wissenschaft und Forschung, die Abschaffung von Kinderarbeit, das Verbot von Folter und Todesstrafe und vieles, vieles mehr.

Als Politiker müssen wir uns fragen: Wie können wir die Köpfe und Herzen der Menschen zurückgewinnen? Wie können wir die tiefe Spaltung in unseren Gesellschaften und auf dem Kontinent überwinden und wieder ein neues Miteinander einüben?

Wenn man retten will, für was Europa einmal in den Augen der meisten Menschen gestanden hat, brauchen wir einen neuen Impuls. Wir brauchen einen ambitionierten, kräftigen Schub und kein ängstliches Stückwerk, damit die EU die Probleme lösen kann, die die Bürgerinnen und Bürger beunruhigen. Europa braucht eine Politikwende. Dazu muss sich unter anderem das über Jahre praktizierte Spiel der nationalen Regierungen ändern: Erfolge reklamieren Berlin, Paris oder Madrid für sich, Misserfolge werden auf Brüssel geschoben. In den letzten Jahren hat sich eine viel zu starke Exekutiven-Fixierung in die europäische Politik eingeschlichen - das hat weder der europäischen Demokratie noch der Qualität der Entscheidungen gut getan. Wir müssen verlorengegangenes Vertrauen zwischen Europa, seinen Institutionen und den Menschen zurückgewinnen. Dabei geht es nicht um „mehr Europa“ oder vergleichbare Theoriedebatten. Es geht darum, mehr Nähe zu schaffen und Distanzen zu überbrücken. Die EU soll und darf nicht alles regeln. Sie muss sich auf die Dinge konzentrieren, die sie besser macht als der Nationalstaat. Überall da, wo der Nationalstaat an Grenzen stößt, müssen wir der EU jedoch die Mittel in die Hand geben, um effektiv handeln zu können: etwa im Bereich der Migrationsfragen, beim Kampf gegen den Klimawandel, in Fragen des internationalen Handels, beim Kampf gegen Steuerflucht und -vermeidung oder bei der Bekämpfung von Terrorismus und grenzüberschreitender Kriminalität. Besonders was die Außenpolitik betrifft, müssen wir die EU handlungsfähiger machen. Europa muss greifbarer und sichtbarer werden. Angesichts der mehrfachen Krise, in der Europa sich befindet und angesichts der Undurchschaubarkeit der gegenwärtig wirkenden Kräfte und Zusammenhänge ist der Wunsch mancher nach einem Rückzug in die vermeintliche nationalstaatliche Idylle verständlich. Aber es wäre gefährlich, sich dieser Illusion hinzugeben. Abschottung verspricht keine Lösung, im Gegenteil: Wir hängen existentiell voneinander ab. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir ein kreatives, vielfältiges, vielseitiges und weltoffenes Europa in einer globalisierten Welt mehr denn je brauchen, um unser demokratisches, soziales und freies Gesellschaftsmodell zu bewahren. Wenn wir solidarisch handeln und einsehen, dass wir gemeinsam stärker sind als allein, dann werden wir die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts meistern.

Quelle: Treffpunkt Europa | http://www.treffpunkteuropa.de