Sehr geehrter Herr Vizepräsident Dombrovskis,
sehr geehrter Herr Minister Augulis,
sehr geehrter Herr Beyer,
sehr geehrter Herr Reck,
sehr geehrter Herr Almgren,
sehr geehrte Frau Ségol,
sehr geehrte Damen und Herren,

zunächst möchte ich Vizepräsident Dombrovskis für die Organisation dieser zeitgemäßen Konferenz über die Wiederaufnahme des sozialen Dialogs auf europäischer Ebene danken. Sie ist in der Tat sehr zu begrüßen.

Wie Sie vielleicht wissen, fordert das Europäische Parlament seit vielen Jahren die umfassende Beteiligung der Sozialpartner an der wirtschaftspolitischen Steuerung und an Strukturreformen.

Wenn die Krise uns eine Sache gelehrt hat, dann dass wir die europäische Wirtschaft nicht länger als eine Reihe von schwarzen Kästen, von getrennten einzelstaatlichen Volkswirtschaften betrachten können. Unsere Volkswirtschaften sind im Gegenteil eng miteinander verbunden. Ereignisse in einem Land wirken sich auch auf die anderen Länder aus. Da die Herausforderung auf europäischer Ebene besteht, muss auch unsere Lösung auf europäischer Ebene ansetzen. Wir müssen also eindeutig unsere wirtschaftspolitischen Maßnahmen besser aufeinander abstimmen.

Wenn wir in Europa jedoch für eine soziale Marktwirtschaft sorgen wollen, brauchen wir auch einen sozialen Dialog auf europäischer Ebene, und wir müssen die Sozialpartner in die wirtschaftspolitische Steuerung in Europa einbeziehen.

Die Frage ist aber natürlich, wie dies in der Praxis umgesetzt werden kann.

Einerseits gibt es unterschiedliche einzelstaatliche Arbeitsmarktmodelle.

In manchen Ländern wird dem sozialen Dialog und den Sozialpartners große Bedeutung beigemessen. In anderen ist dies eher nicht der Fall.

In manchen Ländern haben die Sozialpartner beinahe legislative Befugnisse. Dort können nicht einmal Strukturreformen durchgeführt werden, wenn die Sozialpartner nicht einbezogen werden oder nicht zustimmen. Wenn man sich beispielsweise die länderspezifischen Empfehlungen ansieht, können manche Regierungen bei bestimmten Strukturreformen, z. B. bei der Anhebung des Renteneintrittsalters oder der Änderung des Lohnindexierungsmechanismus, Beschlüsse nicht alleine fassen.

In anderen Fällen gibt es so etwas wie einen ausgereiften sozialen Dialog so gut wie nicht.

Dies hat für die wirtschaftspolitische Steuerung sehr konkrete Auswirkungen.

Ein weiteres Problem ist die Unabhängigkeit der Sozialpartner. Können Sozialpartner, die auf der Ebene der EU organisiert sind, beispielsweise die Sozialpartner auf einzelstaatlicher Ebene zu Strukturreformen verpflichten? Ich bin mir sicher, dass Frau Ségol und Herr Beyer uns später von ihren Erfahrungen mit diesem Thema berichten werden. Und ich freue mich auf während dieser Konferenz ausgearbeitete Vorschläge, wie diese Probleme praktisch gelöst werden können.

Das Europäische Parlament gibt seine Ziele klar vor. Wir sind der Überzeugung, dass sämtliche Arbeitsmarktreformen auf der Grundlage einer stärkeren Koordinierung des sozialen Dialogs erfolgen sollten. Wir wollen auch, dass die Sozialpartner in die Umsetzung und Überwachung des Europäischen Semesters, der Strategie Europa 2020 und des Steuerungsprozesses einbezogen werden.

Die dreigliedrigen Sozialgipfel, die vor der Tagung des Europäischen Rates im Frühling und im Herbst stattfinden, bieten eine großartige Gelegenheit, um den sozialen Dialog auf der Ebene der EU zu verwirklichen. Daher sollte die Rolle dieser Gipfel gestärkt und ihre Verbindungen zu den anschließenden Tagungen des Europäischen Rates verbessert werden.

Als Deutscher bin ich mir der entscheidenden Rolle, die die Partner auf dem Arbeitsmarkt spielen können, und des Wertes ihrer Erfahrungen bewusst. Ich bin überzeugt, dass starke und gleichberechtige Sozialpartner allen zugute kommen und dass der soziale Dialog entscheidend dazu beiträgt, Reformen zu ermöglichen und sie nachhaltig und wirksam zu gestalten.

Ich mache mir große Sorgen über die Risse, die unser europäisches Sozialmodell langsam bekommt. Die Finanzkrise hat die Arbeitnehmer und ihre Rechte in vielen Ländern stark unter Druck gesetzt. Dies ist eine Folge der Krise. Eine Folge einseitiger Sparmaßnahmen. Und eine Folge der Bedrohung der auf einzelstaatlicher Ebene verankerten Sozialrechte durch die auf dem Binnenmarkt gewährten wirtschaftlichen Freiheiten.

Ein Beispiel hierfür ist das Streikrecht. Es wird immer häufiger in Frage gestellt. Und zwar auch durch die Einführung des Aspekts der Verhältnismäßigkeit in den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs.

Wir wollen doch bestimmt nicht, dass der Binnenmarkt für einen „Wettlauf nach unten“ missbraucht wird. Es ist letztendlich eine Entscheidung zwischen fairen Arbeitsbedingungen, hochwertigen Arbeitsplätzen und produktiver Arbeit oder einem Wettbewerb auf der Grundlage von Sozial- und Lohndumping, durch den wir alle schlechter dastehen werden. Unsere Mitgliedstaaten im Norden beweisen uns, dass Reformen nicht zu einer Verschlechterung des Sozialsystems führen müssen. Sie beweisen, dass eine starke und wettbewerbsfähige Wirtschaft Hand in Hand mit sozialem Zusammenhalt einhergehen kann. Sie wissen, dass Investitionen in die Menschen Investitionen in unsere Zukunft sind. Denn in einer globalisierten Welt sind Wissen und Qualifikationen entscheidende Faktoren für Wohlstand und Erfolg.

Manche wollen uns glauben lassen, dass unser europäisches Sozialmodell die Krise verursacht hätte. Das ist aber nicht der Fall. Unser europäisches Sozialmodell ist Teil der Lösung. Und wir haben allen Grund dazu, stolz darauf zu sein und es zu verteidigen.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs haben wir in Europa etwas Einzigartiges erreicht: die Grenzen wurden geöffnet und eine Region in Trümmern wurde zum reichsten Binnenmarkt der Welt. Europa erlebte aufgrund der europäischen Integration aber auch aufgrund der erfolgreichen Entwicklung eines einzigartigen Sozialmodells eine Zeit des stabilen Wohlstands, des Friedens und der Freiheit.

Der allgemeine politische Konsens, dass der Staat einen Rahmen für die Wirtschaft schaffen sollte, führte zu der Vision eines Wohlfahrtsstaates. Die Kluft zwischen Reich und Arm wurde kleiner, und die daraus folgende größere Gleichheit zerstreute die Angst vor einem Wiederaufleben des Extremismus. Der Historiker Tony Judt erinnert uns daran, dass die wichtigste Aufgabe für die Politiker der Nachkriegszeit die Wiedereinbeziehung der Mittelschicht in die Demokratie war. Das europäische Wohlfahrtsmodell wurde zu einem Bollwerk gegen die Rückkehr der Schrecken der Vergangenheit.

Auch heute noch sind der Zugang zu Bildung, Gesundheit, die progressive Besteuerung, die Mitbestimmung der Arbeitnehmer sowie die Renten- und Arbeitslosenversicherung grundlegende Aspekte der sozialen Gerechtigkeit. Die Nachkriegsgeneration der christdemokratischen Politiker von Adenauer bis de Gasperi, von de Gaulle bis Schuman, erkannte jedoch, dass dies auch die besten Mittel zur Stabilisierung der Demokratien, die besten Mittel für den Schutz gegen politischen Extremismus von Links und von Rechts sind.

Aus genau diesem Grund sollte uns die Tatsache, dass Menschen heutzutage erneut von einer „verlorenen Generation“ in Europa reden, aufhorchen lassen. In Griechenland und in Spanien ist die Hälfte aller jungen Menschen arbeitslos. Noch viel mehr sind in einem Teufelskreis aus unbezahlten Praktika und kurzfristigen Verträgen gefangen. Diese jungen Menschen bezahlen mit den Chancen in ihrem Leben für eine Krise, die sie nicht verursacht haben. Das ist nicht fair.

Das soziale Gefüge unserer Gesellschaften läuft Gefahr, untergraben zu werden. Und damit auch das Vertrauen, dass unsere Demokratien auf Fairness und Gerechtigkeit aufbauen, sowie die Überzeugung, dass man es mit harter Arbeit und einer guten Ausbildung schaffen kann.

Mir bereitet es große Sorgen, dass Menschen angeregt werden, einander zu hassen, und gegeneinander ausgespielt werden, obwohl sie alle, wir alle Opfer der Finanzkrise sind. Die Dämonen der Vergangenheit erheben erneut ihr hässliches Haupt, Dämonen, die den Menschen in Europa nie etwas anderes als Leid gebracht haben. Ich stelle mit Sorge fest, dass die Fremdenfeindlichkeit erneut zunimmt und dass populistische Politiker auf billige Sprüche zurückgreifen, um öffentlich die Gemüter zu erregen.

Die Nachkriegsgeneration hatte großartige Visionen und bemühte sich, einen Wohlfahrtsstaat zu gründen, um den sozialen Frieden zu sichern und junge Demokratien zu stabilisieren. Wir, ihre Erben, müssen darauf achten, diesen großartigen europäischen Erfolg nicht zu zerstören.

Die Sozialpolitik liegt zwar vorrangig in den Händen der einzelstaatlichen Regierungen, aber ich glaube, dass die Europäischen Union eine wichtige Rolle bei der Verwirklichung der sozialen Dimension der WWU spielen kann und muss, und dass den Sozialpartnern in dem Prozess eine entscheidende Rolle zukommt. Die EU muss beweisen, dass sie für ihre Bürgerinnen und Bürger sorgt, und muss ihr Versprechen von Frieden, Wohlstand und Fortschritt erneut einlösen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.